2. Kapitel
Wieso müssen Sie ausgerechnet in meiner Kabine schlafen? Sie sind arm! Sie sollten bei den anderen schmutzigen Armen im Unterdeck schlafen!«
Nell schloss kurz die Augen und wandte sich dann zu ihrem Schützling um. Sie hatte es längst aufgegeben, Tabitha zur Ordnung zu rufen. Jeder Versuch in dieser Richtung wurde sogleich von ihren Eltern, Lord und Lady Chadwick, zunichtegemacht. Nell hatte noch nie größere Snobs und arrogantere Menschen kennen gelernt.
»Ich bin deine Gouvernante, Tabitha, und du bist eine junge Dame. Eine sehr junge Dame, die noch Aufsicht braucht.«
Tabithas rundes Gesicht verzog sich zu einer verächtlichen Grimasse. Dass sie noch so jung war, hörte das Mädchen gar nicht gerne.
»Ja, ich bin jung und schön. Und eines Tages, schon bald, werde ich einen reichen Mann heiraten! Warum haben Sie eigentlich nie geheiratet, Nell? Na, jetzt sind Sie natürlich so oder so zu alt dafür.«
Nell verwünschte den Tag, an dem sie die Stelle hier angetreten hatte. Aber die Alternative wäre gewesen, weiterhin in ihrem Heimatdorf zu bleiben. Und das war nicht in Frage gekommen, unter gar keinen Umständen.
Außerdem übertrieb Tabitha. Nell war erst zwanzig, also noch in einem durchaus heiratsfähigen Alter. Aber sie würde sowieso nie heiraten, selbst wenn sie gewollt hätte. Dennoch, die Gemeinheit dieser Göre zerrte an ihren Nerven.
»Tabitha.« Nell holte tief Luft und bat Buddha und wer auch immer sonst gut in solchen Dingen war um Gelassenheit. »Du wirst mich Miss Witherspoon nennen, und sei es nur, weil junge Damen, die keine Manieren haben, überaus schlechte Heiratsaussichten haben.«
Das schien Eindruck zu machen, wie Nell befriedigt feststellte. »Und jetzt hol bitte dein Geschichtsbuch, damit wir mit dem Unterricht beginnen können.«
Tabitha ging schnaubend zu ihrem Bett und nahm ihr Textbuch zur Hand. »Ich weiß, warum Sie nie geheiratet haben, Miss Witherspoon. Weil Sie zu viel gelesen haben. Männer mögen keine gebildeten Frauen, das weiß doch jeder.«
In solchen Augenblicken tat die Kleine Nell beinahe leid. Die Dreizehnjährige war ein typisches Produkt ihrer Zeit. Sie, ebenso wie alle anderen jungen Mädchen, tat alles, um jeglichen Anschein von Intelligenz zu verbergen, nur um die lächerlichen Männer, die sich um ihre Hand bemühen könnten, nicht zu verschrecken. Sie hatte keine Ahnung, dass diese Männer alle Mätressen hatten, Frauen, die in der Regel ausgesprochen gewandt waren. Was verriet das über die wahren Bedürfnisse von Männern? Zu Hause eine dumme Frau, die einem den ersehnten Erben schenkte und daneben eine kluge Mätresse zur geistigen und körperlichen Anregung. Ha!
Nells Eltern hatten ihrem Kind von klein auf die Augen für die Realität geöffnet. Ihr Vater, ein Schullehrer, hatte ihr Physik, Mathematik und Philosophie beigebracht. Aber vor allem ihre Mutter, Sky Witherspoon, hatte sie gelehrt, die Menschen so zu sehen, wie sie waren: engstirnig und voreingenommen. Man hatte ihre Mutter am Ende für verrückt erklärt, und der Vikar hatte sie als »Verdammte« aus der Kirche ausgeschlossen. Zwei Wochen später war sie an einem Fieber gestorben.
»Komm, Tabitha, gehen wir rauf an die frische Luft, da unterrichtet es sich besser. Na, was sagst du?«
Ein Lächeln wollte sich auf Tabithas Pausbacken breitmachen, doch sie unterdrückte es sofort.
»Wenn's denn sein muss«, brummte sie mürrisch und reckte ihr arrogantes Näschen in die Höhe.
Nell führte ihre Schutzbefohlene seufzend aus der Kabine und hinauf aufs Deck. Es könnte noch schlimmer sein, tröstete sie sich dabei. Sie könnte noch in dem Dorf sein, das am Tod ihrer Eltern schuld war. Sie könnte dem Arzt über den Weg laufen, der sich geweigert hatte, der »Verdammten« medizinische Hilfe zu leisten, dem Vikar, der der »Verdammten« ein christliches Begräbnis verwehrt hatte. Und den Dorfbewohnern, die danebengestanden und nichts getan hatten.
Sie könnte immer noch unter jenen Menschen leben müssen, die jede ihrer Bewegungen verfolgt und nur darauf gewartet hatten, dass sie ähnliche Anzeichen von Irrsinn zeigte, wie ihre arme Mutter.
Während ihr Vater vor Kummer langsam zugrunde ging.
Aber dort war sie nicht mehr. Sie hatte den Mädchennamen ihrer Mutter genutzt, um Einlass in die besseren Kreise von Bath zu erlangen. Sie hatte sich diese Stelle als Gouvernante verschafft. Und jetzt befand sie sich auf einem Schiff in Richtung Kontinent, weit, weit weg von ihrem verhassten Heimatdorf.
»Miss Witherspoon!« Tabitha klopfte ungehalten mit ihrer Schuhspitze auf das Holzdeck. »Die Stühle sind ja alle besetzt!«
Nell ließ den Blick stirnrunzelnd über das gute Dutzend Passagiere schweifen, das auf den zwanglos verstreuten Stühlen saß. Dann holte sie tief Luft und konzentrierte sich auf eine Dame mit einem ausladenden Straußenfederhut.
»Komm, Tabitha«, forderte sie das Mädchen auf und zog es auf die junge Frau zu, der sich in diesem Moment von rechts ein junger Mann näherte.
»Woher wussten Sie, dass sie aufstehen würde?«, fragte Tabitha unwirsch, während sie sich in den Stuhl plumpsen ließ, den die Dame mit dem Straußenfederhut soeben frei gemacht hatte.
»Reines Glück«, erwiderte Nell mit einem abweisenden Lächeln.
Sie wusste selbst am besten, wie gefährlich es war, die Leute merken zu lassen, dass sie anders war. Man würde ihr Irrsinn vorwerfen und sie verdammen.
»Also, wo waren wir stehen geblieben? Ach ja, das osmanische Heer stand schon beinahe vor den Toren von Konstantinopel.«
Begeistert erzählte sie von dem raffinierten Plan des damaligen osmanischen Sultans, Mehmet, der seine Schiffe über Land hatte transportieren lassen und so überraschend die Hauptstadt des byzantinischen Reichs eroberte. Geschichte war schon immer ihr Lieblingsfach gewesen. Sehnsüchtig dachte sie daran zurück, wie ihr der Vater bei den Mahlzeiten oft von dieser oder jener Schlacht erzählt hatte.
»Das ist so langweilig! Wieso muss ich solches Zeug überhaupt wissen?«, beschwerte sich Tabitha. Ihre Unterlippe begann zu zittern. Heulen auf Kommando, das war das Neueste, was ihr ihre Mutter zurzeit beibrachte, wie Nell sehr wohl wusste. Sie wollte das Mädchen schon angewidert zurechtweisen, da wurde ihre Aufmerksamkeit von fröhlichem Babyglucksen abgelenkt. Ihr Blick schweifte übers Deck. An der Reling stand ein Mann, der auf jedem Arm ein Kleinkind hatte.
Nell stockte der Atem.
Der Mann war einfach umwerfend. Groß, helle Haut, rabenschwarze Haare. Und soweit sie das aus dieser Entfernung beurteilen konnte, besaßen seine Augen die Farbe des blauen Himmels. Aber das Faszinierendste an diesem Fremden waren sein frohes Lachen und die beiden tiefen Grübchen in seinen Wangen, während sein Blick zärtlich auf seinen beiden Kindern ruhte.
»Was für ein Glück seine Frau hat«, murmelte Nell. Hingerissen beobachtete sie, wie er die Kleinen auf seinen Armen schaukelte und dabei komische Geräusche machte, die die Kleinen noch mehr zum Lachen reizten.
»Welche Frau?«, wollte Tabitha wissen und riss Nell damit aus ihrer Versunkenheit. Nur widerstrebend löste sie ihren Blick von dem glücklichen Trio. Wenigstens hat ihre Unterlippe aufgehört zu zittern, dachte sie, während sie ihre Schülerin ansah.
»Keine. Also, was hast du dir bisher gemerkt?«
Tabitha schenkte ihr einen vernichtenden Blick. »Nichts. Ich habe gar nicht zugehört. Man sollte sich nie mit Niedrigstehenderen abgeben, sagt Mutter!«
Selbst Florence Nightingale hätte bei diesem Balg die Geduld verloren!
»Aber deine Mutter hat mich angestellt, um dich zu unterrichten, also noch mal von vorne.«
Tabitha sank in ihrem Stuhl zusammen und starrte Nell aufsässig an, während diese begann, die Geschichte noch einmal von vorne zu erzählen. Dabei wanderte ihr Blick unwillkürlich zu dem Mann mit den zwei kleinen Kindern zurück. Ein anderer Mann hatte sich ihm angeschlossen, ebenso attraktiv, aber blond. Der ernste Gesichtsausdruck des Blonden stand in eigenartigem Kontrast zum fröhlichen Grinsen ihres Fremden.
Ihr Fremder? Woher war das auf einmal gekommen?
Der Blonde nahm dem anderen das kleine Mädchen ab, und beide Männer drehten sich zur Reling hin und schauten zur entschwindenden Küste Englands zurück. Nells Blick hing an der Schulter »ihres« Fremden, auf dem nun das Köpfchen des Jungen ruhte, der älter zu sein schien als das Mädchen. Seine Augen waren direkt auf sie gerichtet, während er mit seinen kleinen Fäustchen an den schwarzen Locken seines Vaters zog.
Nell verspürte plötzlich das Bedürfnis, mehr über die Frau zu erfahren, die das Glück hatte, die Mutter seiner Kinder zu sein. Wer war sie? Wie sah sie aus? Es war vollkommen unüblich, dass sich ein Vater - noch dazu ein so offensichtlich wohlhabender Vater - so lange selbst um seine Kinder kümmerte - oder sich überhaupt kümmerte. Wo war seine Frau? Das Kindermädchen?
Ohne zu merken, dass sie zu sprechen aufgehört hatte, konzentrierte sich Nell auf den mysteriösen Mann. Sie holte tief Luft. Eine Sekunde verging. Dann sprang Nell jäh auf, stieß dabei ihren Stuhl um und rannte, eine Warnung auf den Lippen, auf den mysteriösen Fremden zu.